Neuausschreibungspflicht: Wann ist das notwendig? Wann nicht?
Als Vergabestelle kennen Sie das: Oft besteht schon sehr lange ein Vertrag, der seinerzeit vergaberechtskonform ausgeschrieben worden ist. Nun kann es aber gerade bei sehr lang laufenden Verträgen sein, dass sich die Rahmenbedingungen geändert haben und dringend „Anpassungen“ erforderlich werden. Häufig ändert sich auch der Bedarf, wenn z.B. mehr oder weniger gebraucht wird. Teilweise laufen Verträge auch so lange, dass sie deutlich über dem Branchendurchschnitt liegen. In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob der Vertrag neu ausgeschrieben werden muss oder ob ggf. „angepasst“ werden kann.
Neuausschreibungspflicht bei geänderten Rahmenbedingungen?
Häufig sind Sie als Vergabestelle damit konfrontiert, dass Verträge zum Beispiel wegen der äußeren Rahmenbedingungen oder aufgrund eines geänderten Bedarfs nicht mehr richtig zu Ihren Bedürfnissen passen. Das kann aufgrund von äußeren Faktoren der Fall sein (z.B. Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Änderung der Rechtslage) oder aus Ihrem eigenen Einflussbereich stammen (z.B. Verwirklichung von Planungen, Mehrbedarf an Leistungen). In solchen Fällen müssen Sie sich fragen, ob eine Vertragsanpassung vergaberechtskonform möglich ist oder ob neu ausgeschrieben werden muss.
Grundsatz: Neuausschreibungspflicht bei wesentlichen Änderungen
Im Vergaberecht gilt der Grundsatz, dass eine wesentliche Vertragsänderung während der Laufzeit eines Vertrages ein neues Vergabeverfahren erfordert. Hintergrund ist die Rechtsprechung des EuGH, wonach eine wesentliche Vertragsänderung der Neuvergabe gleichsteht (vgl. EuGH, 18.09.2019, C-526/17 Rdnr. 59; 19.06.2008, C-454/06, Rdnr. 34 ff. – Pressetext). Diese Rechtsprechung hat auch Einzug in das Vergaberecht gefunden. Oberhalb der EU-Schwellenwerte ist das in § 132 GWB geregelt und unterhalb der EU-Schwellenwerte z.B. in § 47 UVgO. Daraus folgt, dass in erster Linie nur „unwesentliche“ Vertragsänderungen während der Laufzeit zulässig sind. Das ist auch einleuchtend: Könnten Vergabestellen Verträge nach Belieben ändern, würde der Wettbewerb beschränkt und das Vergaberecht umgangen werden.
Für die Frage, was wesentlich (= unzulässig) und was unwesentlich (= zulässig) ist, gibt die EuGH-Rechtsprechung bzw. § 132 Abs. 1 GWB Hinweise. Danach ist vereinfacht gesagt insbesondere dann von einer wesentlichen (= unzulässigen) Änderung auszugehen, wenn
- mit der Änderungen Bedingungen eingeführt werden, die – wenn sie im ursprünglichen Vergabeverfahren gegolten hätten – einen anderen Ausgang des Vergabeverfahrens ermöglicht hätten (weitere Interessenten, andere Angebote etc.),
- sich das wirtschaftliche Gleichgewicht des öffentlichen Auftrages zu Gunsten des Auftragnehmers verschiebt,
- mit der Änderung der Umfang des öffentlichen Auftrags erheblich ausgeweitet wird oder
- ein neuer Auftragnehmer den bisherigen Auftragnehmer ersetzt und kein Fall des § 132 Abs. 2 Nr. 4 GWB vorliegt (z.B. Umstrukturierung des ursprünglichen Auftragnehmers oder entsprechende Klausel im Vertrag).
Keine Neuausschreibungspflicht bei zulässigen Änderungen
Änderungen sind damit in erster Linie ohne Neuausschreibungspflicht zulässig, wenn sie nach den vorgenannten Maßstäben nicht wesentlich sind. Das ist beispielsweise der Fall, wenn durch die Änderung das wirtschaftliche Gleichgewicht nur wiederhergestellt werden soll (etwa, weil es zu erheblichen, unvorhergesehenen Preissteigerungen kam).
Ausnahmsweise können auch wesentliche Änderungen zulässig sein. In diesen Fällen können Sie auf eine Neuausschreibung verzichten. In welchen Konstellationen das zulässig ist, ergibt sich aus § 132 Abs. 2 und Abs. 3 GWB.
Danach ist unter anderem eine Änderung zulässig, wenn sie von vorneherein im Vertrag „angelegt“ und damit nicht wesentlich ist. Das ist der Fall, wenn in den ursprünglichen Vergabeunterlagen klare, genaue und eindeutig formulierte Überprüfungsklauseln oder Optionen vorgesehen sind, die Angaben zur Art, Umfang und Voraussetzungen möglicher Änderungen enthalten (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB). Pauschale Klauseln reichen insofern nicht. Erforderlich ist vielmehr, dass der Vertrag die Änderung bloß nachvollzieht.
Eine Änderung ist auch dann zulässig, wenn die Änderung aufgrund von Umständen erforderlich geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte, und sich aufgrund der Änderung des Gesamtcharakters des Auftrags nicht verändert (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB). Auf diesen Ausnahmetatbestand wurde z.B. als Reaktion auf die Preissteigerungen im Ukraine-Krieg zurückgegriffen.
Darüber hinaus sind auch sogenannte „Bagatelländerungen“ zulässig. Das sind Änderungen, die den jeweiligen Schwellenwert nicht übersteigen und bei Liefer- und Dienstleistungsaufträge nicht mehr als 10% und bei Bauaufträgen nicht mehr als 15% des ursprünglichen Auftragswerts beträgt. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Änderungen ist der Gesamtwert maßgeblich (§ 132 Abs. 3 GWB).
Was müssen Sie als Vergabestelle tun?
Für Sie als Vergabestelle bedeutet das, dass Sie in einem ersten Schritt prüfen müssen, ob die erforderliche Änderung „wesentlich“ ist und deshalb grundsätzlich eine Neuausschreibung erforderlich ist oder ob sie unwesentlich ist und ausschreibungsfrei vorgenommen werden kann. Kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die Änderung wesentlich ist, ist in einem zweiten Schritt zu fragen, ob ausnahmsweise doch kein Vergabeverfahren erforderlich ist – etwa, weil eine Änderungsklausel greift. Ist das auch nicht der Fall, muss neu ausgeschrieben werden.
(Zu) Langlaufende Verträge
Eine Neuausschreibungspflicht kann auch dann entstehen, wenn ein Vertrag schon sehr lange gültig ist und dabei die branchenübliche Geltungsdauer erheblich überschreitet. Damit sind Verträge gemeint, die auf unbeschränkte Zeit geschlossen wurden (keine Rahmenverträge mit einer maximalen Laufzeit von 4 Jahren). Zwar können Verträge (Ausnahme Rahmenverträge) auf unbeschränkte Zeit geschlossen werden. Eine Grenze der Vertragslaufzeit bildet aber der Wettbewerbsgrundsatz. Wann der Wettbewerbsgrundsatz tangiert ist, kann von Branche zu Branche unterschiedlich sein. Zulässig sein dürften regelmäßig „branchenübliche“ Laufzeiten, die u.a. die Abschreibungsdauer von Wirtschaftsgütern berücksichtigen.
Ist eine Laufzeit aber nicht branchenüblich und gibt es auch keine anderen zwingende Gründe für die Laufzeit (z.B. Amortisation von Anfangsinvestitionen oder eine zu erwartende günstige Preisgestaltung), kann der Vertrag vergaberechtswidrig werden. Verträge sind also dann neu auszuschreiben, wenn sie erheblich länger sind als die Branchenüblichkeit und es dafür keine Rechtfertigung gibt.
Fazit
Eine Neuausschreibung braucht es immer dann, wenn ein Vertrag „wesentlich“ geändert werden muss oder wenn er schon sehr lange (über die Branchenüblichkeit hinaus) ohne besondere Rechtfertigung läuft. Wird in diesen Fällen nicht ausgeschrieben, wird ein Vertrag angreifbar. Wettbewerber können bis zu 6 Monaten nach einer rechtswidrigen Vertragsänderung die Unwirksamkeit bei der Vergabekammer feststellen lassen (§ 135 Abs. 2 GWB). Als Vergabestelle können Sie diese Frist nur dadurch verkürzen, dass Sie die Änderungen europaweit bekannt machen (dann 30 Tage) oder potentielle Interessenten direkt informieren (ebenfalls 30 Tage).