Manchmal muss es einfach schnell gehen. Um in solchen Situationen reagieren zu können, erlaubt das Vergaberecht oberhalb und unterhalb der EU-Schwellenwerte eine sogenannte Dringlichkeitsvergabe. Dieser Blogbeitrag gibt eine Übersicht zu den Voraussetzungen und zum Ablauf von Dringlichkeitsvergaben.
Unter welchen Voraussetzungen geht es?
Bei einer Dringlichkeitsvergabe handelt es sich um ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb. Das Vergaberecht gibt abschließend vor, wann ein solches Verfahren durchgeführt werden darf. Aus Dringlichkeitsgründen ist das der Fall, wenn „äußerst dringliche, zwingende Gründe“ (z.B. Behebung von Katastrophenschäden, Abwendung von Gefahrensituationen) im Zusammenhang mit vom öffentlichen Auftraggeber unvorhergesehenen Ereignissen dazu führen, dass die Mindestfristen des offenen bzw. nicht offenen Verfahrens sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb nicht eingehalten werden können. Die zur Dringlichkeit führenden Umstände dürfen dabei nicht vom öffentlichen Auftraggeber verschuldet sein.
FAQ Dringlichkeitsvergabe
Was muss ich als Vergabestelle tun?
Zunächst einmal muss die Dringlichkeit festgestellt werden. Dabei sind an das Vorliegen des Ausnahmetatbestands „Dringlichkeitsvergabe“ hohe Anforderungen zu stellen. Mit dem unvorhersehbaren Ereignis durfte auch bei Anlegung eines hohen Sorgfaltsmaßstabs nicht gerechnet werden. Nur Umstände, mit denen bei der Planung nicht gerechnet werden konnte, können eine Dringlichkeitsvergabe rechtfertigen.
Das bedeutet, dass ein unvorhersehbares Ereignis schon dann nicht gegeben ist, wenn sich zum Beispiel aus bestehenden Statistiken ein bestimmter Beschaffungsbedarf frühzeitig erkennen ließ. Auch die Abrufbarkeit von Fördermitteln bis zu einem bestimmten Termin rechtfertigen nach ständiger Rechtsprechung keine Dringlichkeit. So verhält es sich auch mit vorhersehbaren Verzögerungen bei behördlichen Genehmigungen, die für das jeweilige Beschaffungsprojekt erforderlich sind. Die Dringlichkeit darf außerdem nicht durch den öffentlichen Auftraggeber verschuldet worden sein, etwa durch Abwarten bis zur Dringlichkeit.
Etwas Anderes gilt nur im Bereich der Daseinsvorsorge (z.B. öffentlicher Personenverkehr): Bei der Daseinsvorsorge kann ausnahmsweise auch dann eine Dringlichkeitsvergabe durchgeführt werden, wenn die Dringlichkeit durch den öffentlichen Auftraggeber verschuldet worden ist. Die Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit treten in diesen Fällen hinter die Notwendigkeit der durchgängigen Versorgung der Bürger/innen zurück.
Als dringliche und zwingende Gründe kommen regelmäßig akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Schäden der Allgemeinheit ein sofortiges Eingreifen erfordern. Beispiele dafür sind die Behebung von Katastrophen-, Sturm- und Brandschäden. Auch Krisensituationen wie etwa verursacht durch COVID-19 ermöglichen die Dringlichkeitsvergabe als Wahl der Verfahrensart. In jedem Fall muss die Begründung, die zu einer Dringlichkeitsvergabe führt, vom öffentlichen Auftraggeber sehr penibel dokumentiert werden.
Wie ist der Ablauf einer Dringlichkeitsvergabe?
Die Dringlichkeitsvergabe ist eine Ausprägung des „Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb“. Für den Ablauf von Dringlichkeitsvergaben (so genannte Interimsvergaben) gelten keine besonderen Regelungen. Es muss weder eine Bekanntmachung noch ein Teilnahmewettbewerb stattfinden. Die Wahl des Verfahrens und der Ablauf des Verfahrens hängen vielmehr vom Grad der Dringlichkeit und dem Wert des Übergangsauftrags ab. Dabei ist aber stets auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (§ 97 Abs. 1 Satz 2 GWB).
Außerdem sind bekannte Interessenten am Auftrag einzubeziehen und die Dringlichkeitsvergabe darf nur zur vorübergehenden Bedarfsdeckung eingesetzt werden, also bei weitergehender Beschaffungsabsicht bis ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren abgeschlossen werden kann (vgl. unten bei „Weitere Regeln“).
Gesetzliche Rahmenbedingungen?
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Dringlichkeitsvergaben ergeben sich direkt aus dem Vergaberecht. Für Liefer- und Dienstleistungsaufträge ergeben sich die Vorgaben oberhalb der EU-Schwellenwerte aus § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, für Bauleistungen aus § 3a Abs. 3 Nr. 4 VOB/A-EU. Unterhalb der EU-Schwellenwerte ergeben sich vergleichbare Regelungen aus § 3a Abs. 3 Nr. 2 VOB/A 2019 (freihändige Vergabe) und § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO bzw. § 3 Abs. 5 Buchst. g) VOL/A.
Weitere Regeln?
Weitere Rahmenbedingungen für Dringlichkeitsvergaben wurden von der Rechtsprechung aufgestellt.
- Zur Angebotsabgabe auffordern: Zum „Dringlichkeitsrichterrecht“ zählt etwa, dass bekannte und am Auftrag interessierte Unternehmen mit einzubeziehen sind (OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.01.2014, 11 Verg 15/13, Rdnr. 51 bei juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.9.2008, VII Verg 57/08, Rdnr. 2 bei juris).
- Ausnahme bei Daseinsvorsorge: Liegt ein Verschulden seitens des öffentlichen Auftraggebers für die Dringlichkeit vor, kann die Verfahrensart nur bei Aufträgen im Bereich der Daseinsvorsorge (Grundversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Dienstleistungen wie z.B. Energie- und Wasserversorgung, Abfallentsorgung, öffentlicher Personennahverkehr, Infrastruktur etc.) genutzt werden (OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.01.2014, 11 Verg 15/13 und für Verkehrsnotvergaben nach der VO 1370/2007: OLG Rostock, Beschluss vom 30.10.2019, 17 Verg 5/19).
- Gilt nur für einen bestimmten Zeitraum: Dringlichkeitsvergaben müssen sich auf diejenigen Maßnahmen beschränken, die zur vorübergehenden Bedarfsdeckung erforderlich sind. Die Vergabe eines großen Auftrages der über die Notbedarfslage deutlich hinausgeht, kann nicht mit dem Verweis auf Dringlichkeit gerechtfertigt werden. Außerdem ist eine Dringlichkeitsvergabe nur für den Übergangszeitraum zulässig (VK Südbayern, Beschluss vom 12.08.2016, Z3-3-3194-1-27-07-16). Handelt es sich bei der Dringlichkeitsbeschaffung nicht um eine „Einmal-Leistung“ (z.B. Bestellung von Schutzausrüstung, Beauftragung der Beseitigung von Katastrophenschäden), sondern besteht ein weitergehender Beschaffungsbedarf (z.B. bei Verkehrsleistungen oder anderen wiederkehrenden Leistungen), muss ein ordentliches Vergabeverfahren folgen.
Dieser Beitrag stammt von Dr. Corina Jürschik, Fachanwältin für Vergaberecht bei OPPENLÄNDER Rechtsanwälte Partnerschaft mbB.
OPPENLÄNDER Rechtsanwälte mit Sitz in Stuttgart zählt bei einer Teamgröße von ca. 40 Anwältinnen und Anwälten zu den TOP 50 Kanzleien in Deutschland. Im Bereich des Vergaberechts steht OPPENLÄNDER für ausgezeichnetes vergaberechtliches Know-how. Die Beratungspraxis umfasst die Begleitung von Bietern und öffentlichen Auftraggebern während des gesamten Vergabeverfahrens sowie die effektive Durchsetzung ihrer Rechte vor den Vergabenachprüfungsinstanzen.