Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf aktuelle Vergabeverfahren
Die Kriegsereignisse in der Ukraine und die in der Folge verhängten weltweiten Sanktionen gegen Russland haben die Preise für Energie- und Rohstoffe dramatisch in die Höhe getrieben. Denn es kommen ca. 30 % des Baustahls aus Russland, der Ukraine und Weißrussland; auch ein erheblicher Anteil des Roheisens und weitere Bau- bzw. Rohstoffe kommen aus diesen Ländern. Die gestiegenen Kosten für Energie und Kraftstoffe treffen darüber hinaus die gesamte Bevölkerung. Bei vielen Produkten kommt es zudem zu Lieferengpässen und Lieferverzögerungen. Das wirkt sich nicht nur auf bereits vergebene öffentliche Dienstleistungsaufträge aus, sondern stellt Sie als Vergabestellen auch bei aktuellen Vergabeverfahren vor Herausforderungen. Bei Bietern und Vergabestellen besteht deshalb das Bedürfnis, die Unsicherheiten und Entwicklungen im Vergabeverfahren zu berücksichtigen. Dieser Blogbeitrag gibt Tipps, wie Sie das umsetzen können.
Mögliche Reaktionen auf Preissteigerungen
In regulären Vergabeverfahren gilt der Grundsatz, dass der Angebotspreis mit der Abgabe des Angebots feststeht. Zu Problemen kommt es immer dann, wenn sich bei langfristigen Verträgen die Preise für Rohmaterialien nach Angebotsabgabe nach oben entwickeln. Das Kalkulationsrisiko trägt dabei üblicherweise der Auftragnehmer. Die Preissteigerungen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine würden damit ohne ein Eingreifen der Vergabestelle die Bieter wirtschaftlich empfindlich treffen und könnten allenfalls durch sehr hohe Risikozuschläge abgefedert werden.
Erste Möglichkeit: Stoffpreisgleitklauseln
Ein gängiges Mittel, um hohen Risikozuschlägen und dem Risiko steigernder Rohstoffpreise entgegenzuwirken, sind Stoffpreisgleitklauseln. Stoffpreisgleitklauseln definieren einen Basiswert als Preis für ein bestimmtes Material. Abweichungen des Preises, die über eine bestimmte Bagatellgrenze (i.d.R. 2 %) hinausgehen, können auf dieser Grundlage ausgeglichen werden. Stoffpreisgleitklauseln sind damit ein Instrument des Risikoausgleichs. Entsprechende Klauseln gelten sowohl für Stoffpreissteigerungen als auch für Stoffpreissenkungen.
Das Formblatt 225 des Vergabe- und Vertragshandbuchs für die Baumaßnahmen des Bundes (VHB) definiert die Anwendungsvoraussetzungen für Stoffpreisgleitklauseln bei Bauverträgen. Stoffpreisgleitklauseln sind bei Bauverträgen danach möglich, wenn
- Stoffe ihrer Eigenart nach Preisveränderungen in besonderem Maß ausgesetzt sind und ein nicht kalkulierbares Preisrisiko für diese Stoffe zu erwarten ist,
- der Zeitraum zwischen der Angebotsabgabe und dem Zeitpunkt der vereinbarten Fertigstellung mindestens zehn Monate beträgt, wobei in besonderen Wagnisfällen der Zeitraum mindestens sechs Monate betragen kann und
- der Stoffkostenanteil des betreffenden Stoffes wertmäßig mindestens 1 % der von der Vergabestelle geschätzten Auftragssumme ausmacht.
Diese Voraussetzungen wurden im Kontext des Krieges gegen die Ukraine durch Bundeserlasse erleichtert. So wurden die Anwendungsvoraussetzungen im Erlass vom 25.03.2022 durch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen und vom 22.06.2022 durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr unter Berücksichtigung der Kriegsereignisse festgelegt. So wird etwa die erste Voraussetzung zum Formblatt 225 VHB (nicht kalkulierbares Preisrisiko) für bestimmte Produkte (u.a. Stahl und Stahllegierungen, Aluminium, Kupfer, Zementprodukte) als erfüllt angesehen. Darüber hinaus werden die „Grundsätze zur Anwendung von Preisvorbehalten bei öffentlichen Aufträgen“ vom 04.05.1972 vorübergehend dahingehend ausgelegt, dass die Vereinbarung einer Preisgleitklausel auch dann zulässig ist, wenn der Zeitraum zwischen Angebotsabgabe und Lieferung bzw. Fertigstellung einen Monat beträgt. Damit gilt die weitere Voraussetzung des Formblatts 225 VHB (Zeitraum zwischen Angebotsabgabe und Lieferung/Fertigstellung) als erfüllt, wenn der Zeitraum zwischen Angebotsabgabe und Lieferung/Fertigstellung einen Monat überschreitet. Außerdem können bei Abweichung Stoffpreisgleitklauseln während der Laufzeit des Erlasses auch dann vereinbart werden, wenn der Stoffkostennachteil des betreffenden Stoffes 0,5 % der geschätzten Auftragssumme beträgt.
Während der Geltungsdauer der Erlasse haben Sie als Vergabestelle damit ein größerer Spielraum zur Anwendung von Stoffpreisgleitklauseln. Prüfen Sie aber vor der geplanten Anwendung der liberalisierten Vorgaben bzw. vor dem Einstieg in das Vergabeverfahren, ob der entsprechende Erlass noch gilt bzw. verlängert wurde.
Möglichkeit 2: Angepasste Vertragsfristen
In laufenden Vergabeverfahren sollten Sie als Vergabestelle auch auf Lieferengpässe und Lieferverzögerungen reagieren. So können etwa zur Sicherstellung des Wettbewerbs Vertragsfristen vereinbart werden, die auf die aktuelle Situation und erwartete Lieferfristen angepasst sind. Außerdem sollte vor dem Hintergrund von Lieferengpässen und Lieferverzögerungen Vertragsstrafen entweder gar nicht erst vereinbart oder ausgesetzt werden.
Weitergehende Änderungsmöglichkeiten
Umfassende bzw. wesentliche Änderungen sind in laufenden Verträgen grundsätzlich unzulässig. Denn wesentliche Änderungen eines Auftrags während der Vertragslaufzeit erfordern ein neues Vergabeverfahren (§ 132 Abs. 1 Satz 1 GWB). Spielräume für Änderungen können Sie sich als Vergabestelle aber dadurch schaffen, dass Sie schon in den ursprünglichen Vergabeunterlagen klar, genau und eindeutig formulierte Überprüfungsklauseln oder Optionen vorsehen (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB). Diese Klauseln müssen dabei Angaben zu Art, Umfang und Voraussetzungen möglicher Auftragsänderungen enthalten. Außerdem darf die Änderung nicht dazu führen, dass sich der Gesamtcharakter des Auftrags ändert. Sind entsprechende Klauseln bzw. Optionen in den Verträgen vorgesehen, ist eine darauf gestützte Änderung nicht wesentlich und damit vergaberechtlich zulässig. Die Änderung ist dann von Anfang an im Vertrag „angelegt“. Damit schaffen Sie sich als öffentlicher Auftraggeber die Möglichkeit, in vergaberechtlich zulässiger Weise weitergehende Änderungen vorzunehmen und damit auf die Folgen des Krieges gegen die Ukraine zu reagieren.
OPPENLÄNDER Rechtsanwälte mit Sitz in Stuttgart zählt bei einer Teamgröße von ca. 40 Anwältinnen und Anwälten zu den TOP 50 Kanzleien in Deutschland. Die Beratungspraxis umfasst sämtliche Bereiche des Wirtschaftsrechts. Dies gilt insbesondere auch für das Vergabe- und Kartellrecht.